Kapitel 6

Es wäre mir sehr lieb, wenn du noch heute Abend nach Marguerite sehen könntest«, sagte Antonietta zu Byron. »Sie bleibt über Nacht im Krankenhaus. Ich weiß, dass sie schläft und wahrscheinlich Schmerzmittel bekommen hat, aber es wäre schön, wenn du nachschauen könntest, ob du ihren Heilungsprozess vielleicht beschleunigen kannst.«

»Ich gehe zu ihr«, versprach Byron, »aber im Moment ist ihre Mutter bei ihr, und es ist besser, wenn ich mit ihr allein bin. Ich kann sie nicht vor den Augen ihrer Eltern oder gar der Ärzte heilen. Sie würden mich für den Leibhaftigen halten!«

»Da hast du wohl Recht«, gab Antonietta mit einem schwachen Lächeln zu.

»Ich glaube, du solltest dir jetzt meine Überraschung ansehen. Er steht schon die ganze Zeit draußen und wartet.«

»Du hast jemanden mitgebracht?« Ihr Herz machte einen kleinen Satz. Hatte Diego einen Sohn? Obwohl er so oft zu Besuch kam, wusste sie wirklich kaum etwas über ihn. Tasha hatte einen wunden Punkt berührt: Keiner von ihnen wusste wirklich, wo Byron lebte.

»Gewissermaßen«, erwiderte Byron geheimnisvoll. »Die Tür zum Garten ... da draußen wartet er.«

»Du hättest ihn mit ins Haus bringen sollen«, sagte Antonietta.

»Nun ja, ich habe ihn für dich mitgebracht, und ich hoffe, du denkst immer noch so, wenn du ihn kennen gelernt hast.« Byron öffnete die Tür und rief den Barsoi zu sich.

Celt kam majestätisch näher geschritten. Byron hatte Wort gehalten und den Hund vor dem Unwetter geschützt, sodass sein Fell völlig trocken war. Das Tier ging direkt zu Antonietta und schmiegte seinen Kopf an ihre Hand, als wüsste es, dass sie nicht sehen konnte. Sein Blick war hingebungsvoll auf sie gerichtet. Byron lächelte. »Ich wusste, dass sie dir auf Anhieb gefallen würde«, sagte er zu Celt.

Antonietta vergrub staunend ihre Finger in Celts seidigem Fell. »Ein Hund? Du hast mir einen Hund mitgebracht?«

»Er ist nicht irgendein Hund.« Byron schloss die Tür vor dem heftigen Regen und dem pfeifenden Wind. »Celt ist ein Freund und Beschützer. Er weiß, dass er dir nicht im Weg stehen darf, wird aber immer treu an deiner Seite sein. Solange dieser Hund bei dir ist, kann ich dir notfalls immer helfen, auch aus großer Entfernung.« Er beobachtete unverwandt ihr Gesicht nach Anzeichen, die darauf hinwiesen, dass seine Worte sie verunsicherten. Es schien unlogisch, dass Antonietta seine Eigenheiten einfach hinnahm, aber sie schien tatsächlich nie zu hinterfragen, was er sagte.

Antonietta kniete sich auf den Boden und strich mit ihren Händen über die kräftige Brust und den Rücken des Hundes. »Er ist sehr groß. Und er fühlt sich an, als wäre er der geborene Sprinter. Wie soll ich ihm jeden Auslauf ermöglichen, den er braucht?« Sie wollte den Hund behalten. In dem Moment, als sie die Wärme des Tiers spürte und seine lange Schnauze berührte, die sich sanft an ihre Hand schmiegte, wusste sie, dass es eine Bindung zwischen ihnen gab. Der Hund und sie waren füreinander bestimmt. Sie sehnte sich verzweifelt danach, ihn zu behalten, war sich aber gleichzeitig ihrer Einschränkungen bewusst. »Ich möchte, dass du glücklich bist«, sagte sie zu dem Hund.

»Celt. Sein Name ist Celt. Barsois bleiben nicht bei Leuten, die sie unglücklich machen. Es ist Celts Entscheidung, und in Anbetracht dessen, wie er neben dir Position bezogen hat, würde ich sagen, er hat sie bereits getroffen. Er braucht Ruhe und muss wieder zu Kräften kommen. Seine früheren Besitzer haben ihn sehr schlecht behandelt. Anscheinend gehörte Celt einer jungen Dame, die das Pech hatte, den falschen Mann zu heiraten. Celt wurde in einen winzigen Zwinger gesperrt, in dem er kaum stehen konnte, und wäre beinahe verhungert.«

»Wie furchtbar! Ich kann seine Rippen fühlen.« Antonietta streichelte die seidigen Ohren. »Wir werden ihn wieder in Form bringen. Grazie, Byron. Wirklich. Ich könnte weinen, weil du dir ein so wundervolles Geschenk für mich überlegt hast. Wie hast du ihn bloß gefunden?«

Byron zuckte nachlässig mit den Schultern. »Ich habe seinen Ruf gehört. Er ist ein kraftvoller Hund, aber sehr sanftmütig. Er wird all deinen Befehlen gehorchen und auch angreifen, wenn es sein muss. Er wird über dich wachen, wenn ich nicht bei dir sein kann. Hast du schon einen Bodyguard eingestellt?«

»Justine kümmert sich darum. Ich kenne eine Frau, die eine internationale Agentur leitet. Ich habe sie vor einigen Jahren kennen gelernt und war sehr beeindruckt. Sie ist Amerikanerin, aber alle ihre Leute sprechen mehrere Sprachen und sind erstklassig geschult. Sie wird mir sicher den Richtigen schicken.« Sie erlaubte dem Hund, an ihr zu schnuppern, weil sie wusste, wie wichtig Gerüche in der Tierwelt waren. »Du heißt also Celt. Ich bin Antonietta. Ich habe noch nie ein Haustier besessen, du musst also Geduld mit mir haben. Ich werde mein Bestes tun, um schnell zu lernen.«

»Er ist kein Schoßtier«, erklärte Byron. »Er bietet Schutz und Gesellschaft, aber er entscheidet selbst, bei wem er bleiben will. Du kannst geistig mit mir in Verbindung treten; vielleicht klappt es also auch bei ihm. Sein Gehirn funktioniert nach anderen Mustern, aber wenn du übst, kannst du seine Signale empfangen. Letzten Endes handelt es sich um elektrische Impulse.«

»Ich habe nie darüber nachgedacht, wie Telepathie eigentlich funktioniert oder dass sie auch bei Tieren angewendet werden kann. Kannst du seine Gefühle empfangen?«

»Natürlich. Bei ihm ist es umgekehrt genauso. Ein Hund reagiert mit Unruhe, wenn ein Kind weint oder sein Besitzer verstört oder in Gefahr ist. Du wirst schon sehen.«

»Noch einmal danke, Byron. Was für eine wundervolle Überraschung!« Sie umarmte das Tier, während sie sich daran zu erinnern versuchte, wann sie zum letzten Mal ein Geschenk bekommen hatte. Da ihre Verwandten dachten, dass sie sich selbst alles kaufen konnte, was sie haben wollte, machten sie sich kaum je die Mühe, ihr etwas zu schenken. »Du musst mir erklären, wie ich mit ihm umgehen muss.«

»Ich glaube, Marguerite wird ihn mögen«, sagte Byron. »Sie hat eine angeborene Affinität zu Tieren. Mir ist aufgefallen, dass sie wilde Tiere anzieht.«

»Wirklich?« Antonietta war erstaunt. »Das hat mir gegenüber nie jemand erwähnt, nicht einmal Justine, und sie ersetzt mir hier im Palazzo gewissermaßen meine Augen.« Eine Hand auf den Kopf des Hundes gelegt, wandte sie ihr Gesicht Byron zu. »Was hast du damit gemeint, als du mich von den Klippen nach Hause gebracht und gesagt hast, es wäre vielleicht möglich, dass ich durch deine Augen sehen kann? Du bringst die unglaublichsten Dinge fertig. Könntest du es irgendwie bewerkstelligen, mein Augenlicht zurückzugewinnen?«

Byron stieß langsam seinen Atem aus, während er mit einer Hand durch das weiche Fell des Hundes fuhr. »Das ist eine schwierige Frage, Antonietta. Es ist falsch, einem Gefährten des Lebens eine Unwahrheit zu sagen. Ich kann dir helfen, mit meinen Augen zu sehen, aber es wäre nicht von Dauer. Du könntest durch unsere geistige Verbindung sehen, was ich sehe. Solange ich bei dir bin und meine Sehkraft mit dir teile, kannst du sehen. Alles, was darüber hinausgeht, ist eine ganz andere Frage, auf die ich noch nicht alle Antworten habe.«

Einen Moment lang brachten sie seine Worte aus der Fassung. Sie hatte den Ausdruck »Gefährten des Lebens« noch nie gehört, aber die Vorstellung, sehen zu können, war viel zu faszinierend, um jetzt das Thema zu wechseln. »Ich könnte wirklich sehen? Ich würde die kleine Marguerite sehen? Meinen Großvater? Tasha und die anderen? Dich? Ich könnte mich selbst im Spiegel anschauen?«

»Ja, aber es wäre verwirrend für dich. Dein Gehirn ist an Signale von den Augen nicht gewöhnt, und du wärst mit Sicherheit desorientiert. Es wäre besser, wenn du mit etwas Kleinem anfängst und dich dabei ganz still verhältst. Bewegungen würden dein Unbehagen wahrscheinlich verstärken.« Er hätte sie am liebsten in die Arme genommen und gehalten, während er ihr das erklärte. Er konnte ihre Verwirrung fühlen, und es erstaunte ihn, wie sehr er selbst darunter litt, wenn sie verstört war.

Antonietta holte tief Luft. »Ich bringe Celt jetzt in mein Zimmer und stelle ihn meiner Familie erst vor, wenn sich die Lage ein wenig beruhigt hat.« Immer wieder ließ sie sich Byrons Worte durch den Kopf gehen und versuchte zu begreifen, was sie zu bedeuten hatten. Versuchte dahinterzukommen, was er ihr verschwieg. Versuchte, sich vorzustellen, sehen zu können, wenn auch nur durch seine Augen.

Es überraschte sie, dass der Hund sofort an ihrer Seite war, als sie sich in Bewegung setzte. Er hielt sich dicht an sie, behinderte sie aber nicht.

»Wenn er sich vor dich schiebt, will er, dass du stehen bleibst, und dafür wird es einen Grund geben«, bemerkte Byron. »Es wäre gut, wenn du versuchen würdest, mit ihm in Verbindung zu treten, da auch er dir die Augen ersetzen kann.«

»Ich verlasse mich nicht gern auf andere, wenn es nicht unbedingt sein muss«, erwiderte Antonietta. »Es nimmt mir meine Unabhängigkeit.«

»Du verlässt dich auf Justine.« Sein Tonfall war bewusst sachlich. »Celt ist ein Gefährte und eine Hilfe. Vielleicht stellst du fest, dass er dir sogar mehr Freiheit und Unabhängigkeit gibt. Jedenfalls werde ich in der Zeit, die ich nicht bei dir sein kann, beruhigter sein, wenn ich ihn in deiner Nähe weiß. Er braucht jetzt Ruhe, aber du wirst entdecken, dass er die meiste Zeit bei dir sein will, wenn er sich erst einmal an dich angeschlossen hat.«

Antonietta umarmte den Hund. »Keine Sorge, Byron, ich werde jeden Augenblick mit ihm genießen.«

Zu dritt gingen sie die Treppe hinauf und den Gang entlang, bis sie Antoniettas Zimmerflucht erreicht hatten. Nach einer kurzen Besichtigung der Räume ließ Celt sich nieder. Er schien sich so wohl zu fühlen, als wäre hier schon immer sein Zuhause gewesen. Antonietta entging nicht, dass Byron die Tür zu ihrer Suite geschlossen hatte und sie mit ihm allein war. »Es verunsichert dich, dass ich dir nie Fragen nach deinem Leben stelle, nicht wahr?«

»Warum akzeptierst du einfach, dass ich anders bin, Antonietta?«, beantwortete Byron ihre Frage indirekt. »Wenn ich deine geistige Barriere überwinden würde, könnte ich deine Gedanken lesen, so wie es bei Gefährten des Lebens üblich ist, aber ich versuche, Geduld zu haben und so lange zu warten, bis du bereit bist, deine Gedanken mit mir zu teilen. Wenn du nicht mit mir sprichst, ist es mir nicht möglich zu erfahren, was du gerade denkst.« Er dachte kurz an die männlichen Exemplare der Gattung Mensch, die nicht die Möglichkeit hatten, sich in die Gedankenwelt ihrer Frauen hineinzuversetzen.

Antonietta streichelte die seidigen Ohren des Hundes. »Kennst du die Geschichte der Scarlettis und dieses Palazzos? Hast du gewusst, dass es im gesamten Gebäude eine Unzahl von Geheimgängen gibt? Diese Gänge bewahren die Schätze der Scarlettis ebenso gut wie unsere Geheimnisse. Ich möchte dir etwas zeigen.« Sie beugte sich vor und umarmte noch einmal den Hund. »Du bleibst hier und wärmst dich auf, Celt.«

»Du willst doch nicht einen dieser Gänge betreten, Antonietta?«, fragte Byron besorgt. »Ich habe genug gehört, um zu wissen, dass Geheimgänge meistens sehr gefährlich sind. Soweit ich weiß, können tödliche Fallen in Wänden und Böden angebracht sein.«

Sie fuhr mit einer Hand am unteren Ende der Wand entlang, bis sie den Mechanismus fand, mit dem sich die Tür zu dem schmalen unterirdischen Gang öffnen ließ.

»Dieser Geheimgang ist mehr als nur ein Fluchtweg zur See«, sagte Antonietta. »Er dient seit Generationen als Lagerplatz für kostbare Antiquitäten, die das Interesse von Eroberern, Regierungen oder sogar der Kirche wecken könnten.«

»Hast du bei all den hier drinnen möglicherweise verborgenen Fallen keine Angst, du könntest einen falschen Schritt machen und verunglücken?« Byron, der wusste, dass auf Uneingeweihte scharfe Klingen lauerten, behagte die Vorstellung, dass Antonietta sich mit ihrem üblichen Selbstvertrauen durch die dunklen Gänge bewegte, ganz und gar nicht.

Antonietta lachte leise. »Genau aus diesem Grund sind die Klingen schon vor vielen Jahren entfernt worden. Wir muss- ten uns nicht mehr vor Plünderern zum Meer flüchten, deshalb wurden die Fallen zum Schutz unwissender Familienmitglieder entschärft.« Sie nahm seine Hand und lächelte ihn an. »Es ist völlig sicher. Komm mit. In der Dunkelheit bin ich zu Hause, und ich werde aufpassen, dass dir nichts zustößt. Hier drinnen ist etwas, das ich vor einiger Zeit entdeckt habe. Für mich ist es mehr wert als all das Gold und die Kunstwerke, die in den geheimen Kammern aufbewahrt werden.«

»Bist du wirklich sicher, dass die Fallen entschärft worden sind?«

»Ja. Auch die Scarlettis sind in die moderne Zeit eingetreten. Wir haben hier im Gang sogar Strom legen lassen. Wir brauchten ihn für die Safes und für elektrisches Licht.« Ihr Lachen war leise und einladend. Wie konnte irgendjemand ihrem Lachen widerstehen, insbesondere er?«

Byron nahm ihre Hand und folgte ihr in den dunklen Gang. Antonietta schaltete das Licht in dem verborgenen Labyrinth nicht an. Sie brauchte kein Licht, und es sagte einiges darüber aus, wie gut sie ihn kannte, dass sie dasselbe bei ihm voraussetzte.

»In der Nacht, als meine Eltern starben, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich wachte auf und bekam kaum noch Luft. Ich rief nach ihnen, aber sie hörten mich nicht. Dann lief ich an Deck. Ich konnte irgendwo das Ticken einer Uhr hören. Als ich es später Nonno erzählte, sagte er, ich hätte es mir nur eingebildet. Aber so war es nicht. Ich wusste, dass eine Bombe auf dem Boot war. Ich sprang ins Meer, im selben Moment, als die Bombe explodierte.«

Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss und sperrte sie in dem engen Gang ein. Es war stockfinster. Kein Licht drang in das Labyrinth. Der Weg war so schmal, dass Byrons Schultern beinahe an beiden Seiten die Wände streiften. »Es ist durchaus möglich, dass du etwas gehört und gespürt hat. Viele

Leute haben eine innere Alarmanlage und sogar eine Art Radarsystem.«

»Jahrelang habe ich mir Vorwürfe gemacht. Ich habe meine Eltern dort gelassen. Sie kamen nicht an Deck, als ich schrie, dass wir in Gefahr wären. Ich weiß nicht, warum, aber sie kamen nicht.« Sie führte ihn um zwei scharfe Biegungen herum und bog von dem breiteren der zwei Gänge ab. »Damals habe ich zum ersten Mal das wilde Tier in mir gespürt.«

Byron, der fühlte, wie sich ihre Finger unwillkürlich fester um seine Hand schlössen, zog sie eng an sich. »Du warst ein Kind, Antonietta, erst fünf Jahre alt. Du bist selbst nur knapp dem Tod entkommen. Offensichtlich hast du lang genug gezögert, um beinahe selbst mit in die Luft zu fliegen.«

Sie strich mit einer Hand zärtlich über seine Brust. Ihre Finger zitterten. »Das weiß ich ... jetzt. Kinder neigen dazu, sich selbst die Schuld zu geben. Ich drehte mich um, als ich merkte, dass sie nicht an Deck gekommen waren, und schrie ganz laut, dass sie sich beeilen sollten.« Einen Moment lang lehnte sie ihren Kopf an seine Brust. »Ich war zu klein, um über die Reling klettern zu können, aber ich spürte, wie sich eine Kraft in mir regte, die immer stärker wurde und sich in meinem ganzen Körper ausbreitete. Die Nacht war dunkel, der Mond schien nicht, und alles war finster. Das Meer war schwarz. Auf einmal fühlte ich etwas unter meiner Haut, fast wie etwas Lebendiges, und es kratzte schrecklich. Und dann konnte ich alles sehen, nicht wie sonst, sondern ganz anders. Die Nacht war plötzlich hell und klar. Ich konnte hören, wie meine Mutter meinem Vater zuflüsterte, dass sie nach mir schauen wolle und gleich wieder da wäre. Sie dachten, ich hätte einen Albtraum. Aber es war bereits zu spät. Ich sprang auf die Reling, mit einem einzigen Satz. Es war ganz leicht. Im nächsten Moment wurde alles weiß, dann rot und orange, und dann wurde mir schwarz vor Augen.«

Byron konnte den tief in ihrem Inneren sitzenden Schmerz spüren. Es kam nicht darauf an, dass all das vor vielen Jahren passiert war, in Antoniettas Erinnerung waren die Ereignisse noch so frisch wie an dem Tag, an dem sie stattgefunden hatten. Er hielt sie eng an sich gedrückt und vergrub sein Gesicht in ihrem duftenden, seidigen Haar. »Ich bin so froh, dass du überlebt hast, Antonietta. Dass du deine Eltern verloren hast, tut mir sehr leid. Du musst sie sehr geliebt haben.« Er sehnte sich danach, ihre allgegenwärtige geistige Barriere zu durchbrechen, wollte ihre Erinnerungen sehen, wollte wissen, worum es sich bei der Kraft in ihrem Inneren gehandelt hatte und woher diese Kraft gekommen war.

»Sie waren wundervoll. Man sah sie fast ständig zusammen. Sie waren einander so nah. Ständig schienen sie irgendwelche Geheimnisse zu haben. Komm, ich will dir etwas zeigen.« Sie trat einen Schritt zurück und berührte ihn an der Hand. »Ich habe nie jemandem erzählt, was in dieser Nacht wirklich passiert ist. Ich wusste, dass man mich für verrückt halten würde. Ich bin mit den heilenden Kräften der Scarlettis zur Welt gekommen. Und einige von uns sind telepathisch veranlagt, obwohl diese Fähigkeit begrenzt ist. Ich konnte nie mit irgend- jemandem so mühelos kommunizieren wie mit dir.« Sie blieb in der Mitte des langen Gangs stehen und fuhr mit ihrer Handfläche über die Seitenwand. »Als ich diesen Raum entdeckte, war er völlig mit Spinnweben überzogen. Ich glaube, hier ist seit einer Ewigkeit niemand mehr gewesen.«

Byron legte seine Hand auf ihre, ließ seine Finger in die jahrhundertealte Einbuchtung gleiten und ertastete den verborgenen Mechanismus, mit dem sich der Eingang zur Kammer öffnen ließ. Als die Tür aufging, ging in dem Raum automatisch das Licht an. Gleichzeitig schlug ihnen dumpfe, abgestandene Luft entgegen. Byron drehte Antonietta um und schirmte sie mit seinem Körper ab, während er mit den Armen wedelte, um einen Luftzug zu erzeugen. Er wartete, bis er sicher war, dass man frei atmen konnte, und trat erst dann zur Seite.

»Wie hast du es bloß geschafft? Ich habe auch ungewöhnliche Eigenschaften, aber ich wäre ganz sicher nicht in der Lage, zwei Erwachsene über die Klippen und den schmalen, rutschigen Pfad hinunter zum Palazzo zu tragen. Ich könnte schwören, dass unsere Füße den Boden nicht berührt haben, und du hast dich so schnell bewegt, dass uns der Wind ins Gesicht blies. Ich kann auf die Kraft des Tiers in mir zurückgreifen, und manchmal kann ich Wärmebilder sehen, wie mit einer Infrarotkamera, denke ich, aber was du kannst, könnte ich nie. Wie damals in jener Nacht, als ich im Dunkeln sehen konnte. Es machte mir Angst. Nicht ich war es, die sehen konnte, sondern irgendetwas anderes.«

Sie trat in den kleinen Raum. Byron folgte ihr. Die Kammer war lang und schmal und kaum größer als ein begehbarer Schrank. Und in die Wände war vom Boden bis zur Decke eine Mischung aus Symbolen, Bildern und alten Schriftzeichen eingeritzt.

»Das ist die Geschichte meiner Familie«, erklärte Antonietta. »Unser Erbe, das, was wir sind. Und seit Nonno mir diesen Raum gezeigt hat, habe ich keine Angst mehr vor mir selbst.« Sie neigte den Kopf in seine Richtung. »Und ich würde nie Angst vor dir haben.« Sie deutete auf die Wand. »Da hast du die Katze, nach der du letzte Nacht gesucht hast. Die Scarletti- Katzen.«

Byron trat näher zur Wand und fuhr mit den Fingerkuppen über die verschlungenen Muster, um sie auf dieselbe Weise wie Antonietta zu »lesen«. Es waren Bilder von Zwitterwesen, von Männern und Frauen, die halb Mensch, halb Jaguar waren, für alle Zeiten im Zustand der Verwandlung festgehalten. Die älteren Darstellungen waren grob, aber detailliert, die später angefertigten sehr schön, als hätte sich jemand große Mühe bei seinem Werk gegeben. »Das ist unglaublich, Antonietta. Hat das sonst noch jemand gesehen?«

»Nein. Ich hielt es für besser, dieses Wissen für mich zu behalten.«

Byron stimmte ihr zu. Was sich in diesem Raum befand, würde den Scarlettis und ihrer gesellschaftlichen Stellung großen Schaden zufügen. Aber die sorgfältig geführte Chronik der Familiengeschichte war von großer Bedeutung für sein eigenes Volk. Seine Finger flogen förmlich über die Wand, um so schnell wie möglich zu lesen. »Das ist also der Grund; warum dir das, was mich von anderen unterscheidet, keine Angst macht und du es akzeptieren kannst.«

»Ich wusste sofort, dass du einer der männlichen Abkömmlinge dieser Linie sein musst, deine Fähigkeiten aber viel stärker ausgeprägt sind als meine.« Sie holte tief Luft und atmete nur ganz langsam wieder aus. »Ich weiß, dass du nicht bleiben wirst, Byron, aber das ist in Ordnung, wirklich. Ich habe nicht den Wunsch zu heiraten. Ich bin mit meinem Leben, so wie es ist, ganz zufrieden. Ich habe nie eine dauerhafte Beziehung mit einem Mann in Betracht gezogen. Ein Liebhaber ist allerdings etwas anderes. Ich glaube, es würde für uns beide sehr gut laufen, solange du bei mir bleiben möchtest.«

Er drehte sich langsam um, lehnte eine Hüfte an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Weile herrschte Schweigen. »Es wird dir also nichts ausmachen, wenn ich dich verlasse?«

Antonietta hörte das unterschwellige Grollen in seiner Stimme, das Mahlen seiner Zähne. Ein Schauer überlief sie, und zum ersten Mal regte sich Unruhe in ihr. Byron wirkte wie ein ungezwungener, höflicher Mann, ein Gentleman der alten Schule mit sehr guten Manieren. Sie dachte daran, wie ihr Angreifer auf der Klippe nach hinten geschleudert worden war, an das unverkennbare Geräusch brechender Knochen. Daran, wie mühelos der Körper weggestoßen worden war. Byron hatte nicht einmal nachgeschaut, ob der Mann noch lebte. Er hatte gewusst, dass er tot war.

»Na ja, ich habe die Aufzeichnungen hier an der Wand gründlich studiert und bin mir über die Rastlosigkeit der männlichen Exemplare dieser Spezies im Klaren. Ich wollte dir nur sagen, dass ich das Unausweichliche akzeptiere und du deswegen kein schlechtes Gewissen haben musst.« Noch während sie sprach, trat sie einen kleinen Schritt zurück und legte eine Hand schützend an ihre Kehle. Ihre Pulsader pochte heftig, als würde sie nach Byron rufen. Die Stelle, wo er in der vergangenen Nacht sein Mal hinterlassen hatte, pulsierte und brannte.

»Es gibt tatsächlich etwas Unausweichliches in unserer Beziehung, aber ich bezweifle, dass du dasselbe meinst wie ich.« Beiläufig, fast träge streckte er eine Hand aus, legte sie um ihren Nacken und zog sie an sich. Sie folgte nur zögernd seinem Druck, indem sie einen kleinen Schritt machte und dann noch einen, bis sie die Hitze seines Körpers durch die dünne Barriere ihrer Kleidung spüren konnte.

Sie stemmte sich mit beiden Händen gegen seine Brust. »Warum bist du böse?«

Er brodelte vor Zorn bei der Vorstellung, dass Antonietta überzeugt war, er würde sie verlassen. Dass sie glaubte, er könnte den Wunsch haben, sie zu verlassen, und diese Tatsache beinahe dankbar zu akzeptieren schien. Byron bemühte sich, seine aufgewühlten Gefühle im Zaum zu halten. Jetzt die Beherrschung zu verlieren, wäre eine Katastrophe. »Was auf dieser Wand steht, ist, dass eine Gruppe von Frauen und Kindern hierherkam, um Zuflucht zu suchen. Es gab nur wenige Männer, hauptsächlich alte oder sehr junge, aber niemanden, der die Frauen hätte beschützen können. Sie baten um die Erlaubnis, sich auf dem Land der Scarlettis und unter dem Schutz dieser Familie anzusiedeln. Es waren Fremde, die aus einem fernen Land kamen. Es heißt, dass diese Frauen über ungeheure übersinnliche Fähigkeiten verfügten. Sie waren telepathisch veranlagt und verstanden sich auf das Heilen von Krankheiten. Und sie alle konnten ihre Gestalt verändern.«

Antonietta nickte. Byron hielt sie nicht fest; seine Finger ruhten leicht, fast zärtlich auf ihrem Hals, aber sie spürte dennoch die Spannung, die zwischen ihnen vibrierte. »Die Bilder zeigen eindeutig eine große Katze.«

»Einen Jaguar«, erklärte er. »Ich habe schon von der Spezies der sogenannten Jaguarmenschen gehört. Sie sind so gut wie ausgestorben. Die Männer weigerten sich, bei den Frauen zu bleiben, und irgendwann suchten sich die Frauen ihre Ehemänner unter normalen Menschen. Im Lauf der Jahrhunderte floss das Jaguarblut immer dünner in ihren Adern.«

Sie nickte zustimmend. »Manchmal spüre ich die Katze in mir. Wenn sie mich warnen will, zum Beispiel. Ich habe einen ausgeprägten Geruchssinn. Ich bin blind, aber manchmal, wenn das wilde Tier in mir stärker wird, sehe ich Farben, Rot und Gelb und Weiß. Wärmebilder. Als du gestern Nacht eine Katze gewittert hast, dachte ich, dass einer meiner Cousins vielleicht genauso ist und ich nicht völlig aus der Reihe tanze. Es ist wahr, Byron. Das ist auch der Grund, warum die Scarlettis mit den Frauen im Dorf einen Pakt geschlossen haben. Sie wollten die Gabe der Jaguarwesen für sich haben. Einige der männlichen Scarlettis heirateten diese Frauen, und in manchen fließt das alte Blut sehr stark, bei anderen nicht. Wie gesagt, ich habe diese Bilder sorgfältig studiert. Du hast völlig Recht, wenn du sagst, dass die Männer fortgingen. Die Frauen waren bereit, unter Menschen zu leben, weil ihre Männer nie bei ihnen blieben. Sie schwängerten ihre Frauen, und dann gingen sie fort, auch wenn gerade Hungersnöte, Seuchen oder gar Kriege herrschten. Die Frauen sehnten sich nach Gemeinschaft und Liebe und einer Familie, und deshalb wandten sie sich unserer Rasse zu.«

»Wie es auch woanders geschah«, bemerkte Byron.

»Früher hatten Frauen kaum Rechte und genossen wenig Schutz, aber heute sind wir durchaus in der Lage, unsere Kinder allein großzuziehen. Ich habe ein schönes Leben, und ich habe nie erwartet, jemandem zu begegnen, zu dem ich mich stark genug hingezogen fühlen könnte, um für immer mit ihm zusammenzubleiben. Wirklich, Byron, ich wollte dir nur sagen, dass ich von einem Liebhaber weder erwarte noch es mir wünsche, dass er länger als einen kurzen Zeitabschnitt bei mir bleibt.«

Sein Atem entwich in einem langen, gereizten Zischlaut. »Leider ist es nicht das, was ich erwarte oder mir wünsche, Antonietta. Ich bin kein Jaguarmensch. In meinem Volk ver- lässt man einander nicht, wenn es einem gerade einfällt oder weil einen die Abenteuerlust packt. Wir bleiben ein Leben lang zusammen. Für immer und ewig. Mit weniger werde ich mich nicht zufriedengeben. Du musst noch viel darüber lernen, wer und was ich bin.« Seine dunklen Augen hefteten sich besitzergreifend auf ihr Gesicht.

Sie konnte die Wucht und die Intensität seines Blicks spüren, der sich förmlich in ihre Haut brannte, und wurde sofort an die lähmende Dunkelheit erinnert, in der sie lebte. Allein mit ihm in der Enge der Kammer war es zu spät, daran zu denken, dass sie sehr wenig von dem Mann wusste, der so nahe bei ihr stand. Sie wusste nichts von seiner Familie oder seiner Herkunft oder seinen Gefühlen. Er war immer allein und sehr ruhig, sehr höflich, aber er konnte von einem Moment auf den anderen erschreckend gewalttätig werden, wenn es sein musste.

»Wer bist du, Byron?« Ihre Stimme klang ängstlich und gequält, gerade jetzt, wo sie ihre übliche Selbstsicherheit mehr denn je gebraucht hätte. »Sag mir bitte, wer du bist. Sag mir, was du bist. Wenn du kein Jaguarmensch bist wie ich, was dann?« Sie hielt den Atem an und presste eine Hand auf ihren Magen, der sich vor Nervosität zusammenschnürte.

Byron hob mit einem Finger ihr Kinn. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht, warm und einladend. Seine Lippen strichen über ihren Mundwinkel, samtweich und so zärtlich, dass ihr Herz einen Satz machte. »Ich bin der Gefährte deines Lebens. Der Hüter deines Herzens, so wie du die Hüterin des meinen bist.« Die Worte wurden an ihre Augen geraunt. Seine Lippen wanderten an ihrem Gesicht hinab, um zu ihrem Mund zu finden. Weich, beharrlich, zart wie ein Hauch und doch fest genug, um ihr den Atem zu rauben. Die Sprache. Den Verstand. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, dass sie Byron begehrte, ihn haben wollte.

Seine Worte klangen eigenartig und beinahe förmlich, aber das hielt sie nicht davon ab, ihren Mund seinem zuzuwenden. Sich mit allen Fasern ihres Seins nach ihm zu sehnen. Byron. Während wie vieler einsamer Nächte hatte sie von ihm geträumt, erotische, leidenschaftliche Träume von wildem Sex und einer Lust, die so berauschend war, dass sie nicht einmal wusste, ob so etwas überhaupt existierte. Seine Lippen press- ten sich auf ihre, und er verschlang sie mit seinem Mund, der heiß und männlich und erregend war, im Dunkel der geheimen Kammer, in der die bizarren Geheimnisse ihrer Vorfahren die Wand schmückten.

Sie verschmolzen miteinander, zwei Hälften eines Ganzen. Feuer loderte auf, Funken sprühten, und unter ihren Füßen schien die Erde zu beben. Byron zog sie enger an sich, presste seine harten Muskeln an ihr weiches Fleisch. Er wusste, wie sie sich anfühlen würde, sanft gerundete Formen und berauschende Hitze sowie eine Leidenschaft ausstrahlend, die seine geheimsten Sehnsüchte stillen würde. Byron wusste es beinahe seit dem Moment, als er zum ersten Mal den Zauber ihrer Musik gehört hatte.

Antonietta legte ihre Arme um seinen Hals. Byron entführte sie in eine Welt von Hunger und Leidenschaft und Licht, an jenen Ort, wo sie ihre Musik fand und vieles andere - Schmerz, Freude, Erotik. All ihre Wünsche. Sie musste ihm einfach noch näher sein, musste die unglaubliche Hitze seiner Haut spüren. Sie schob ihre Hände unter sein Hemd, um seine straffen Muskeln zu berühren. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass es schmerzte und ihr Körper vor Verlangen weich und anschmiegsam wurde.

»Byron«, wisperte sie mit einer Stimme, die so verlockend wie die einer Sirene war. Aus ihrem Mund klang sein Name wie eine Einladung ins Paradies.

Seine Zähne nagten an ihrer vollen Unterlippe. »Willst du, dass ich mit dir schlafe, Antonietta? Es wäre doch ganz leicht für dich. Keine Bindung. Keine Liebe, die uns im Weg stehen könnte.« Seine Hand schloss sich um ihre Brust, und sein Daumen streichelte ihre Brustspitze, bis sie zu einer festen Knospe wurde. Er beugte sich vor, um der Versuchung nachzugeben, die sich hinter dem dünnen Stoff ihrer Bluse verbarg. Ihre Brüste waren wunderbar weich und voll. Sie hatte einen sehr weiblichen Körper mit üppigen Rundungen. Sein Mund legte sich heiß und feucht auf ihre Brust und saugte so fest daran, dass Antonietta den Rücken durchbog und mit beiden Händen in sein Haar griff, um ihn näher zu sich heranzuziehen.

Ihre Knie wurden weich, und sie stieß einen Schrei aus. Fast fürchtete sie, auf der Stelle einen Orgasmus zu bekommen, ausgelöst allein von seinen Lippen auf ihrer Brust. Seine Zunge glitt durch das Tal zwischen ihren Brüsten zu ihrer Kehle hinauf. »Ist es das, was du willst? Eine rein körperliche Beziehung?« Er hob den Kopf, und sie spürte den sengenden Blick seiner Augen wie Laserstrahlen. »Ist das gut genug für dich?«

Antonietta vergrub die Finger in seinem Haar, sehnte sich verzweifelt danach, ihn wieder an sich zu ziehen. Es gab keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, und dennoch tat sie es. »In der Vergangenheit ist es immer gut genug gewesen«, sagte sie schroff und schämte sich sofort, weil es ihm gelungen war, sie aus der Fassung zu bringen, obwohl es ihn nichts anging, was sie tat oder bleiben ließ.

Byron richtete sich langsam auf und gab sie wieder frei. Als er sich von ihr löste, fühlte sie sich allein und beraubt, und ihr war kalt. »Mir ist es nicht gut genug.«

Antonietta fuhr sich mit einer Hand unsicher durchs Haar und trat absichtlich in den Gang hinaus, um sich Freiraum zu verschaffen. »Du kannst dir unmöglich eine langfristige, dauerhafte Beziehung mit mir wünschen. Du kennst mich doch gar nicht.«

»Das stimmt nicht ganz, Antonietta. Es gibt kaum etwas, das ich nicht über dich weiß. Ich habe mir die Zeit genommen, ruhig bei dir zu sitzen und dir zuzuhören. Ich habe mir die Musik angehört, die du spielst, und dich im Umgang mit deiner Familie beobachtet. Ich kenne dich viel besser, als du glaubst. Du dagegen hast dir nicht die Zeit genommen, mich kennen zu lernen. Du dachtest, ich könnte dein Liebhaber werden, ohne in deine perfekte kleine Welt einzudringen, und du könntest weitermachen wie bisher, aber Tatsache ist, dass es ständig Veränderungen gibt und alles Konsequenzen hat.«

Es gefiel ihr nicht, sich selbst mit seinen Augen zu sehen. Er gab ihr das Gefühl, oberflächlich und egoistisch zu sein. »Es ist nichts falsch daran, als Frau praktisch zu denken, Byron. Männer nehmen sich ständig Geliebte, um sie eines Tages wieder zu verlassen. Das machen sie seit Jahrhunderten so. Ich bin realistisch, nicht gefühllos. Ich habe eine Familie, die von mir abhängig ist, und einen Beruf, der mich völlig ausfüllt. Sieh doch ein, dass ich Recht habe. Du bist nicht in mich verliebt.« Würde er es wagen, sie zu belügen, und behaupten, er wäre es?

Er wandte sich ab, entfernte sich ein paar Schritte und kam wieder zu ihr zurück. Selbst in dem dunklen Gang konnte sie seinen Schatten fühlen, seine Gegenwart. Das war nicht der Mann, bei dem sie sich so wohl fühlte, der Mann, den sie für liebenswürdig und höflich hielt, sondern ein gefährliches Raubtier, das ihr in den geheimen Gängen des Palazzo Scarletti auflauerte. Sie hatte unwillkürlich die Vision von gefletschten Zähnen und lautlosem Knurren. »Woher willst du wissen, was ich empfinde oder nicht ?« Seine Stimme war so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte, aber sie hatte einen Unterton, der Antoniettas Angst verstärkte.

Sie streckte ihre Hand aus, als wollte sie ihn auf die Probe stellen. Byron nahm ihre Hand sofort und legte sie an seine Brust. Sie konnte seine Wärme spüren und sein Herz, das stetig und kräftig schlug, in einem perfekten Rhythmus, dem ihr Herz zu folgen schien.

»Ich wollte dir nicht wehtun.« Sie trat näher zu ihm. »Das habe ich aber, als ich gesagt habe, dass ich keine dauerhafte Beziehung mit dir eingehen will, nicht wahr? Ich habe es nicht so gemeint, wie es sich anhörte.« Warum hatte sie solche Angst gehabt? Wie hatte sie jemals glauben können, Byron mit seinen vollendeten Manieren könnte je anders als großzügig und ritterlich sein? Das Abenteuer der vergangenen Nacht hatte offenbar an ihren Nerven gezerrt.

»Kein Mann hört gern, dass man ihm irgendwann den Lauf- pass geben wird«, sagte Byron. »Tut dem Ego gar nicht gut.« Er zog ihre Finger an seine Lippen.

Antonietta erwartete einen flüchtigen Kuss. Sein Mund schloss sich um ihren Finger. Es fühlte sich heiß und feucht an, genauso, wie es gewesen war, als er mit seinen Lippen ihre Brust liebkost hatte. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten und hatte das Gefühl, einfach zu zerfließen. »Ich glaube, meine Hormone arbeiten gerade auf Hochtouren, Byron.« Ihr blieb keine andere Verteidigung als Humor. »Wenn du so weitermachst, reiße ich dir noch dein Hemd vom Leib.«

»Ich glaube nicht, dass diese Warnung geeignet ist, mich zu entmutigen, Antonietta.« Ein leichtes Lachen schwang in seiner Stimme mit. Seine Zähne knabberten an ihrem Finger und glitten weiter zu ihrem Daumen. »Wie hast du diese Kammer entdeckt? Du bist doch nicht besonders oft in dem Geheimgang, oder?«

Seine Stimme klang nicht sehr neugierig, aber sie hatte trotzdem den Eindruck, dass er auf ihre Antwort gespannt war. Dass sein beiläufiger Tonfall in scharfem Gegensatz zu seinen Gefühlen stand. »Ich war mein Leben lang meistens in der Lage, Menschen recht gut einzuschätzen, Byron. Ich habe immer geglaubt, es liegt daran, dass ich blind bin und mich auf meine anderen Sinne verlassen muss. Bei dir ist es sehr schwer, weil du nicht viel sagst und ich nicht darauf zählen kann, dass deine Stimme verrät, was in dir vorgeht.« Sie hob eine Hand, um sein Gesicht zu berühren, und zog mit den Fingerspitzen behutsam seine Züge nach.

»Ich war nie blind, Antonietta, obwohl ich lange Zeit keine Farben sehen konnte. Ich habe die Welt in Schattierungen von Grau, Weiß und Schwarz gesehen. So geht es allen Männern meines Volks. Die meisten von ihnen verlieren die Fähigkeit, Farben zu sehen, wenn sie herangewachsen sind, aber bei mir hat es viel länger gedauert.«

Byron wirkte so bedrückt, dass sie unwillkürlich näher zu ihm rückte. »Was ist los? Woran denkst du?«

»Vor langer Zeit hatte ich einen Freund aus Kindheitstagen. Er war mehr als ein Freund. In meiner Welt können Geschwister sehr viel älter sein. Mein Freund war meine Familie. Wir waren nie weit voneinander entfernt, und er machte mir das Leben erträglich. Ich habe Schmuck angefertigt, und Jacques wollte es auch unbedingt versuchen.« Bei der Erinnerung an Jacques' Streiche verzog er den Mund. Byron war ein Meister der Edelsteine und konnte durch seinen Gesang die Steine der Erde dazu bringen, zum Vorschein zu kommen. Jacques hatte ihn oft in die tiefsten Höhlen begleitet. »Mein Freund war mehrere Jahre lang verschwunden und galt als tot. Damals war mein Leben die Hölle. Ich fühlte mich allein, und vielleicht nahm ich es ihm übel, dass er gestorben war und mich damit allein gelassen hatte. Ich fühlte mich verloren, ohne Halt. Dann sah ich eines Tages eine Frau. Ich konnte sie in Farbe sehen. Ich wusste, dass sie rotes Haar und grüne Augen hatte. Wenn das passiert, wissen die Männer unserer Spezies, dass sie die eine Frau ist, die ihnen bestimmt ist. Aber ich konnte niemanden und nichts sonst in Farbe sehen, was keinen Sinn ergeben hätte, wenn sie meine Gefährtin des Lebens gewesen wäre, da uns Licht und Farben durch unsere Gefährtinnen vollständig zurückgegeben werden. Ich hätte es besser wissen müssen, hätte mir die Zeit nehmen sollen, alles gründlich zu durchdenken, aber damals war ich nicht besonders geduldig.«

Die Trauer schien wie ein schweres Gewicht auf ihm zu lasten. Antonietta konnte seinen Schmerz in ihrem Inneren fühlen, aber sie schwieg, in der Hoffnung, er würde weitersprechen. Sie hatte das Gefühl, dass er die Geschichte noch nie jemandem erzählt hatte.

Byron wandte den Kopf, um ihre Fingerspitzen zu küssen. »Später wurde mir bewusst, dass mein Freund Jacques und ich einander so nahe waren, dass ich Visionen aus seinem Kopf empfing. Er war gefoltert worden und kaum noch bei Sinnen. Er hatte keinerlei Erinnerung an uns beide, deshalb kam mir damals nicht der Gedanke, dass ich immer noch mit ihm verbunden sein, immer noch durch seine Augen sehen könnte, wie es früher oft bei uns vorgekommen war, wenn wir auf unserem persönlichen Verbindungsweg Informationen austauschen wollten. Aber bis mir klar wurde, was vorging, war es zu spät. Ich hatte unsere Freundschaft zerstört und ihn mit tiefem Misstrauen gegen mich erfüllt. Ich habe ihn im Stich gelassen, als er mich brauchte. Ich bereue meine Unbesonnenheit noch immer zutiefst.«

»Das ist wirklich traurig, Byron. Ich hoffe, es geht deinem Freund inzwischen besser. Und wenn ihr wirklich so gut befreundet wart, wird er dir, wenn er wieder gesund ist, sicher alles verzeihen, was du auch getan haben magst.«

»Die Verbindung zwischen uns besteht nach wie vor, falls einer von uns beschließt, sie wieder aufzunehmen, aber ich konnte seit damals keine Farben mehr sehen. Mein Leben wurde wieder grau und schattenhaft. Bis ich dich traf.«

Die Art, wie er es sagte, offen und ehrlich, traf sie bis ins Herz. Bis ich dich traf. Es musste seine Stimme sein, die eine derartige Wirkung auf sie hatte. »Was hat sich verändert?« Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Antonietta erteilte sich eine strenge Ermahnung. Er war ein Mann wie all die anderen Männer, die kamen und gingen, wie es ihnen gefiel. Und wenn er noch so schöne Worte machte, letzten Endes stellte sich spätestens bei dem Ehevertrag heraus, worauf sie es alle abgesehen hatten. Und es war nie Antonietta, die Frau, gewesen.

»Mein ganzes Leben«, sagte er einfach.

Und hier in der undurchdringlichen Dunkelheit wollte sie ihm glauben. »Küss mich, Byron. Küss mich noch einmal.« Sie legte ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn, bot sich ihm dar, zeigte ihren Hunger und ihr Verlangen nach ihm. Sie sollte sich vielleicht nicht wünschen, dass er etwas Besonderes war, dass er anders als all die anderen war, aber sie brauchte es, von ihm geküsst zu werden, brauchte ihn, und das, obwohl sie sonst nie jemanden brauchte.

Er murmelte Worte in einer Sprache, die sie noch nie gehört hatte, und neigte seinen Kopf zu ihrem hinunter. Seine Lippen strichen federleicht über ihr Gesicht, ihre Wangenknochen und kitzelten ihre Haut und ihre Sinne. In seinen Händen lag eine ungeheure Kraft, als er sie noch enger an sich zog und ihren Körper an seine Hüften presste. Sein Mund glitt spielerisch über ihren, und seine Zähne knabberten zart und sehr verführerisch an ihrer Unterlippe. Selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie ihm nicht widerstehen können.

Antonietta schmiegte sich an ihn. Wenn er bei ihr war, ihr so nahe war, konnte sie kaum an etwas anderes denken. Sie verlangte nach ihm wie ein Süchtiger nach einer Droge. »Eine Besessenheit«, murmelte sie. »Das bist du für mich. Ein Magier, der mich verzaubert hat.«

»Und ich dachte, es wäre genau andersherum.« Er raunte die Worte an ihre Lippen.

Bevor sie etwas erwidern konnte, nahm er ihren Mund in Besitz, und die ganze Welt stand Kopf. Obwohl es hier unten kein Licht gab, erstrahlten Farben vor ihrem inneren Auge und zerbarsten wie ein Feuerwerk. Unter ihren Füßen schwankte der Boden so stark, dass sie sich an Byron festhalten musste. Seine Gegenwart raubte ihr den Atem, und doch war er für sie die Luft, die sie zum Leben brauchte. Völlig unvorbereitet darauf, dass ihr Körper mit einem Mal weich und nachgiebig wurde, klammerte sie sich an ihn. »So etwas ist mir noch nie passiert.«

Er küsste sie wieder, lange und genießerisch. Hungrig. Als wäre sie die einzige Frau auf der Welt und er einfach gezwungen, sie zu küssen. Und dann hob er plötzlich abrupt den Kopf. Ein feuriges Rot glühte in seinen Augen, und einen Moment lang blitzten weiße Fangzähne in der Finsternis des Geheimgangs auf. »Jemand kommt hierher«, sagte er. Sein Tonfall war nicht bedrohlich, aber er vermittelte ihr einen flüchtigen Eindruck der Gewalttätigkeit, die in ihm schlummerte. Auf das wilde Tier, das vehement seine Freiheit forderte und darum kämpfte, sich zu behaupten. Byron blieb nach außen hin unverändert ruhig, aber sie fühlte es, als wäre dieses Tier in ihrem eigenen Inneren.

Sie spürte, wie er all seine Sinne einsetzte und tief einatmete, als könne er einen Feind wittern. »Niemand kommt jemals hierher, Byron«, flüsterte sie. »Wir verwahren hier große Kostbarkeiten, Kunstwerke und Schmuck. In den Kammern muss ständig eine bestimmte Temperatur eingehalten werden, damit die Sachen keinen Schaden nehmen. Nicht einmal Familienmitglieder kommen hierher, ohne vorher Nonno oder mich um Erlaubnis zu fragen.«

Er legte seine Lippen an ihr Ohr. »Irgendjemand ist im Gang. Er bewegt sich leise und verstohlen und ziemlich unsicher. Ich glaube nicht, dass der Betreffende um Erlaubnis gebeten hat.« Er sah einen Lichtschein, der sich in ihre Richtung bewegte. »Er kommt näher. Ich kann uns seiner Sicht entziehen, aber der Gang ist zu schmal, und er wird mit dir zusammenstoßen. Wir müssen in die Kammer mit der Chronik der Scarlettis gehen und die Tür schließen.«

Byron fühlte, wie sie scharf den Atem einzog und ihre Finger sich unwillkürlich um den Stoff seines Hemds krampften. Sein Arm schloss sich fester um ihre Schultern. »Bei mir bist du sicher. Ich weiß, dass der Raum beengt ist, aber ich komme auf jeden Fall wieder heraus, auch wenn der Mechanismus nicht funktionieren sollte.«

Nicht der kleinste Anflug von Zweifel lag in seiner Stimme. Antonietta konnte ihm nicht mitteilen, wie es war, in einer Welt erstickender Dunkelheit zu leben, mit dem Gefühl aufzuwachen, keine Luft mehr zu bekommen, und mit zugeschnürter Kehle verzweifelt um Atem zu ringen. Sie nickte wortlos, da sie ihrer Stimme nicht traute. Ihr graute vor der lähmenden Angst, die sie unweigerlich befiel, wenn sie sich auf unbekanntem Terrain befand.

Byron zog sie in die Enge der kleinen Kammer und stieß an die Tür, bis sie zufiel und sie beide einschloss. Schützend zog er Antonietta an seine Schulter. Wenn die Tür geschlossen war, erlosch automatisch das Licht, und die Geheimnisse der Scarlettis blieben verborgen, wie sie es viele Jahrhunderte lang gewesen waren. Byron fuhr mit den Fingerspitzen über die Wand. Die Gravierungen waren klar und präzise, ein Kunstwerk und gleichzeitig eine Art Tagebuch jeder Generation. Er berührte eine Figur, die ihre Gestalt veränderte, erst menschlich war, dann halb Mensch, halb Tier und schließlich eine Raubkatze. Der Jaguarmensch. Das traurige Ende einer Spezies. Das Blut war so verdünnt, dass zweifelhaft war, ob es mehr als eine Hand voll von ihnen gab, die über sämtliche Fähigkeiten ihrer Art verfügten. So viele Gattungen waren von der Erde verschwunden oder vom Aussterben bedroht.

Antoniettas Finger fanden zu seiner Hand und zogen ebenfalls die wunderschön gezeichnete Gestalt nach. Wenn du kein Jaguarmensch bist, was dann, Byron? Sie benutzte instinktiv die intimere Form der telepathischen Kommunikation. Irgendwo auf der anderen Seite der Wand schlich schließlich jemand durch den Gang, der seine ganz eigenen Absichten verfolgte und vor dem man sich schützen musste.

Ich entstamme der Erde. Mein Volk besteht seit Anbeginn der Zeit, in dieser oder jener Form.

Dann kannst du also deine Gestalt verändern? Sie klang sehr aufgeregt.

Sein Atem streifte warm ihr Gesicht. Seine Lippen strichen über ihren Wangenknochen. Wird es deine Entscheidung, mich eventuell für den Gen-Pool kommender Generationen der Scarlettis in Betracht zu ziehen, in irgendeiner Weise beeinflussen, wenn ich mit Ja antworte P Er horchte auf die verstohlenen Schritte, die an ihrem Versteck vorbeischlichen.

Das ist nicht komisch. Trotzdem stieg Lachen in ihr auf. Und Freude. Es war wahr. Sie war nicht im Begriff, den Verstand zu verlieren, wie sie oft glaubte, wenn sich das Tier in ihr regte und lautstark verlangte, freigelassen zu werden. Ich bin zu alt, um auch nur daran zu denken, Kinder zu bekommen. Sie sprach es aus, um sich selbst wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Sie war außerdem zu alt, um an eine dauerhafte Beziehung zu denken, auch wenn der Mann sie faszinierte und ihr das Gefühl gab, schön und jung und voller überschäumender Freude zu sein. Es war eine Schwärmerei, körperliche Anziehungskraft, eine Verliebtheit, die bald vergehen würde. Die bald vergehen musste.

Seine Hand fuhr über ihr Haar und hob dann den schweren Zopf. Du hast keine Ahnung, was alt ist, Antonietta.

Unverhohlene Erheiterung schwang in seiner Stimme mit, aber gleich darauf wurde er ernst. Ich wüsste gern, wer da draußen herumschleicht. Es ist ein Mann und zwar ein Mitglied deiner Familie. Normalerweise kann ich menschliche Gedanken leicht lesen, aber in dieser Umgebung hier überwiegt der Einfluss des Jaguars. Es scheint Paul zu sein, aber hier unten kann ich die meisten Leute nicht so leicht wie sonst ausmachen. Wenn ich zu viel Druck ausübe, wird er meine Anwesenheit spüren. Aber ich kann ihm folgen, um zu sehen, was er im Schilde führt.

Antonietta biss sich fest auf die Knöchel, um einen Protestlaut zu unterdrücken. Sie war Hunderte Male in dem Labyrinth von Tunneln und Gängen gewesen. Es wäre albern, sich jetzt davor zu fürchten, hier allein zu bleiben. Wenn sie erst einmal aus dieser Kammer heraus war, konnte sie ohne weiteres den Rückweg in ihr Zimmer finden. Byron war derjenige, der riskierte, sich in dem komplizierten Labyrinth zu verlaufen, das sich durch die vielen Ebenen des Palazzo Scarletti zog.

Du kannst also auch die Gedanken anderer lesen ? Ich dachte, es ginge nur bei mir, dass wir einfach dieselbe Form von Telepathie beherrschen. Du kannst es bei jedem?

Du etwa nicht? Hörst du bei den Vorstandssitzungen, zu denen dein Großvater dich immer mitnimmt, nicht alles, was die anderen denken ? Bevor sie antworten konnte, tätschelte er ihre Hand. Ich bin gleich wieder da.

Antonietta öffnete den Mund. Ob sie zustimmen oder widersprechen wollte, war ihr selbst nicht klar, aber Byron war bereist verschwunden. Eben noch hatte sie die feste, warme Gestalt neben sich gespürt, und jetzt war er nicht mehr da. Sie hatten sich nicht in Richtung Tür bewegt. Sie streckte ihre Hände aus und tastete sorgfältig alle vier Wände ab. Er war einfach verschwunden, spurlos und ohne jedes Geräusch.

Sie presste eine Hand an ihren offenen Mund und lehnte sich fassungslos an die Wand mit der Chronik ihrer Vorfahren. Was bist du P Sie fuhr mit ihren Fingern über die Wand und untersuchte jedes Wort, jedes Symbol und jedes Bild in der Hoffnung, eine weitere Gestalt zu finden, die ihr Volk annehmen konnte. Nichts deutete darauf hin, dass einer von ihnen sich einfach in Luft auflösen konnte. Sie glaubte, dass es möglich war, seine Gestalt zu verändern, aber völlig zu verschwinden, war etwas ganz anderes. Warum beunruhigte es sie so sehr, dass Byron dazu in der Lage war, wenn sie damals, als sie auf die Geschichte ihrer Familie gestoßen war, nur Erleichterung über die seit Generationen weitervererbte Veranlagung zu übersinnlichen Kräften empfunden hatte?